Eine Grundsatzpositionierung philosophischer Art – Die implizite zivilisationsgefährdende Botschaft hinter dem Stehlen der Stolpersteine
Wer die Erinnerung an die Opfer des Holocaust ablehnt, negiert auch die Werte der Aufklärung, aus denen unser heutiges Verständnis von Recht und Ordnung herrührt – allen voran die Würde des Menschen.
Die Wirkung der Aufklärung ist nicht allein auf einen überwiegend ökonomischen Liberalismus zu reduzieren, wie es die angelsächsische Tradition á la Smith vermuten ließe. Es sind viel mehr Toleranz, Schutz der Freiheiten des Individuums sowie der reflektierte, rationale und empathische Umgang mit den Mitmenschen. Aufklärung lässt sich insbesondere mit einem Namen verbinden – Immanuel Kant. Ohne seinen Begriff der Würde wäre unser modernes Verständnis vom zwischenmenschlichen Zusammenleben unvorstellbar. – Dies ist jedoch nur aus dem Kontext unserer Vergangenheit zu verstehen, aus jener vor ca. 84 Jahren ausgelebten Barbarei; kurz: dem Nationalsozialismus mit seinem immer noch unfassbarem Finale – dem Holocaust. Durch diesen Schrecken, der von unseren Vorfahren gelebt wurde, läuterten sich seine Nachkommen, damit dergleichen nicht noch einmal geschehe, damit die Würde des Menschen nicht noch einmal angetastet werde, damit der aufklärerische Begriff der Würde nun das Fundament unserer Verfassung sein konnte. Ist auf diese Weise das Gedenken an die Schoah abgeschlossen? Haben deswegen die Ideale der Aufklärung Einzug in unsere Gesellschaft erhalten? Kann man den Gedanken der ‚deutschen Aufklärung‘ von seinem ‚Widersacher‘ dem Nationalsozialismus trennen? – Nein. Das wussten nicht nur Adorno und Horkheimer als prominenteste wie schärfste Kritiker der Aufklärung und des Holocaust, die das Projekt der Aufklärung durch Auschwitz gescheitert sahen. Wer als Deutscher der Aufklärung gedenkt und sich zu ihren daraus entstandenen Idealen bekennt, verurteilt gleichzeitig ihre Verhöhnung durch den Nationalsozialismus! Dieser bediente sich ihrer Instrumente – dem rationalen und ökonomisch effizienten Denken – zur organisierten Ermordung von 6/8 Mio. Juden und kritisch denkender Menschen. Jeder Deutsche muss sich dieser List des Nationalsozialismus bewusst sein, sich daran erinnern müssen, damit er sich nicht wiederholt. Damals wie heute kleidet er sich im vertrauten aufklärerisch-bürgerlichen Gewand und ist seit jeher mit großer Vorsicht zu beobachten.
Die Stolpersteine sind ein Mahnmal gegen die Gedanken des Nationalsozialismus. Sie negieren ihn durch die Erinnerung seines fürchterlichen Resultates und der Verhöhnung unserer Werte. Jeder einzelne deportierte oder vertriebene Mensch stellt einen zerstörten Lebensentwurf dar und daher eine Grundverletzung des aufklärerischen Gedankens – eine Verhöhnung und Verletzung der Würde des Menschen.
Die Stolpersteinsetzung ist daher die manifestierte [sprichwörtlich: einbetonierte] Positionierung zur Aufklärung und ihren für uns wichtigen Idealen. Das Stehlen der Steine impliziert daher einen verheerenden Gedanken: Durch den Raub trägt der Dieb zur Verharmlosung und Vertuschung der Barbarei der NS-Ideologie bei und wendet sich damit gegen die Ideale der Aufklärung. Er verneint auf diese Weise den Begriff der Würde des Menschen. Wenn man bedenkt, dass Boppard eine große jüdische Gemeinde hatte, und in kürzester Zeit ‚Judenfrei‘ war, wird deutlich wie sehr diese Stadt der Barbarei verhaftet war. Nach 72 Jahren tut Boppard gut daran, sich durch diesen Akt der Erinnerung und des Gedenkens von der Barbarei zu distanzieren und damit unsere aufklärerischen Werte nicht nur anzuerkennen, sondern sie auch zu verteidigen. Die rege Empörung der Bopparder Bürger über den Diebstahl ihrer Stolpersteine in den sozialen Netzwerken, im persönlichen Gespräch, auf der Straße und in Leserbriefen, die hohe Resonanz, die die Stolpersteininitiative von den Bopparder Bürgern erhielt, ist ein starker Ausdruck von Verantwortungsübernahme für das Vergangene sowie für das Zukünftige. Es ist die Verantwortung gegenüber ihren Kindern, die diese Barbarei nicht nochmal erfahren und zu überzeugten aufgeklärten Demokraten heranwachsen sollen. – Denn wer die Erinnerung an die Opfer des Holocaust ablehnt, negiert auch das Bekenntnis zu der aus der Aufklärung entwickelten Würde des Menschen.
Verfasst von Christian Reppert mit redaktioneller Unterstützung Philippe Bürgins
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